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«Viele Betroffene bedauern, dass sie nicht schon früher etwas gegen ihre Höhenangst unternommen haben», sagt der Angstexperte Prof. Dr. med. Michael Rufer im Interview

Aktualisiert: 6. Juni



Prof. Dr. med. Michael Rufer darf ohne Übertreibung als ausgewiesener «Angstexperte» bezeichnet werden. Nebst seinem eindrucksvollen Werdegang bis hin zum Chefarzt und Geschäftsleitungsmitglied der Klinik Zugersee (siehe Biografie unten), ist Michael Rufer auch Mitautor von zahlreichen Büchern, wie beispielsweise von der Publikation «Stärker als die Angst» (3. Auflage) und hat viele wissenschaftliche Studien zu Angst- und Zwangsstörungen durchgeführt. Umso mehr freut es uns, dass wir Michael Rufer für dieses Interview gewinnen konnten.

 

Höhencoach:

Vom Schweizer Alpenclub SAC wurden Sie in einem Beitrag zum Thema Höhenangst einmal sinngemäss wie folgt zitiert: «Eine Expositionstherapie, sprich eine reale Exposition mit der eigenen Angst - wie z.B. bei Höhenangst in den Bergen, auf Brücken oder Türmen - habe eine Erfolgsquote von 80-90%». Stehen Sie heute noch zu dieser Aussage?

 

Prof. Dr. med. Michael Rufer:

Erfreulicherweise ist die Expositionstherapie bei Angststörungen ein sehr effektives Behandlungsverfahren. Die spezifischen Phobien, zu denen auch die Höhenphobie zählt, gelten wiederum als die am besten behandelbaren Angststörungen. Wissenschaftlich wurde dies mehrfach gezeigt und auch klinische Erfahrungen stimmen damit überein, dass diese Erfolgsquote realistisch ist. Wobei man auch sehen muss, dass 10-20% nicht profitieren. So wenige sind das nicht und es ist wichtig, auch mit diesen Menschen Wege zu finden, dass sie von der Angst nicht allzu stark eingeschränkt werden.

 

Höhencoach:

Sind solche Heilversprechen in der Psychologie nicht verpönt?

 

Michael Rufer:

Völlig einverstanden, diese Erfolgsquote sollte kritisch eingeordnet werden. Sie gilt für Personen, die bereit sind, eine solche Therapie wahrzunehmen. Wir wissen aber, dass eine grosse Zahl von Menschen mit Angststörungen keine adäquate Behandlung aufsuchen. Die Gründe sind vielfältig, einige schämen sich dafür und ziehen sich zurück, andere haben Angst, zu einer Veränderung gezwungen zu werden, wenn sie in Therapie gehen, wieder andere glauben nicht daran, dass ihnen eine solche Therapie hilft. Manche wissen auch gar nicht, dass es eine erfolgversprechende Therapie gibt oder finden keinen Therapieplatz. Kommt noch hinzu, dass einige Betroffenen zusätzliche Probleme haben, die die Behandlung erschweren, zum Beispiel Suchterkrankungen oder Depressionen. Zugleich finde ich, man sollte die guten Erfolgschancen nennen, was ja kein «Heilversprechen» ist. Denn nicht wenige Menschen glauben, dass sie gegen ihre Ängste nichts tun können. Diese sind dann oft überrascht, wie schnell sie von einer Expositionstherapie profitieren und bedauern im Nachhinein, dass sie diese nicht früher gemacht haben.

 

Höhencoach:

Viele Betroffene sind der Ansicht, ihre Höhenangst sei «angeboren». Können Sie unseren Leserinnen und Lesern in einfachen Worten erklären, warum und wie spezifische Ängste wie beispielsweise die Angst vor Spinnen, soziale Ängste oder eben die Höhenangst verlernt werden können?

 

Michael Rufer:

Hier scheint mir wichtig, zwischen «Ängsten» und «Phobien» zu unterscheiden. Ängste sind überlebensnotwendig und bestimmte Ängste, wie vor Spinnen oder in der Höhe, auch evolutionär gesehen sinnvoll. Von daher spielt Vererbung hier vermutlich eine wichtige Rolle. Wie aber aus Ängsten Phobien werden, ist häufig ein komplexes Geschehen, bei dem Vererbung eine von mehreren Ursachen sein kann, aber nicht muss. Bei einer Phobie geht die Angst deutlich über das normale Mass hinaus, führt zu starkem Vermeidungsverhalten und schränkt das Leben erheblich ein. Für diese Entwicklung können, je nach Person, unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. Wenn beispielsweise nahe Bezugspersonen starke Spinnenangst haben, kann es sein, dass man als kleines Kind lernt, dass Spinnen wohl sehr gefährlich sind und traut sich nicht mehr in die Nähe von diesen. Aber auch spätere Lebensereignisse, die Persönlichkeit des Betroffenen und viele andere Aspekte können bei der Entwicklung einer Phobie wichtig sein. Im Rahmen einer Therapie wird zu Beginn analysiert, wie die Angststörung möglicherweise zustande gekommen ist und welche Rolle dies für die Therapieplanung spielt. Was dabei auch wichtig ist: Selbst wenn eine Angsterkrankung teilweise durch Vererbung erklärbar sein sollte, heisst das noch lange nicht, dass man sie nicht bewältigen kann.

 

Höhencoach:

In Ihrem Buch «Stärker als die Angst» schreiben Sie von 10 goldenen Regeln, wenn es darum geht, mit der eigenen Angst einen guten Umgang zu finden. Welche dieser Regeln würden Sie Betroffenen von Höhenangst besonders auf den Weg mitgeben wollen?

 

Michael Rufer:

Die Idee dieser Regeln ist eigentlich gerade, dass jede Person für sich selbst die für sie persönlich wichtigsten Regeln festlegt. Mit auf den Weg geben würde ich daher jemand mit Höhenangst, dass er oder sie sich zwei oder drei Regeln markiert, die besonders hilfreich zu sein scheinen. Die Liste mit den markierten Regeln bringen manche Betroffene dann kleinformatig mit in die Expositionsübung und schauen vor Beginn nochmals darauf. Im Verlauf einer Therapie kann sich die Bewertung der Regeln auch ändern, manche nehmen an Bedeutung zu, andere verlieren an Wichtigkeit.

 

Höhencoach:

Ebenfalls haben Sie in Ihrem Buch sinngemäss geschrieben, dass eine Vermeidung einer Angstsituation die Angst nur noch verstärkt. Können Sie uns dieses Phänomen bitte kurz erläutern?

 

Michael Rufer:

Generell führt konsequentes Vermeiden dazu, das die Angst vor dem Aufsuchen der Situation zunimmt. Die Schwelle wird immer höher, die Befürchtungen, was alles passieren könnte, verstärkt sich, und es gibt aufgrund der Vermeidung keine Möglichkeit, diese in der Realität zu überprüfen. Ausserdem bewerten manche Menschen ihr Vermeidungsverhalten so, dass die Angst gestärkt wird: «Gut, dass ich nicht dahin gegangen bin, es wäre sicher furchtbar geworden, ich hätte das nie geschafft.» Andere werden durch ihr Vermeidungsverhalten immer selbstunsicherer, erleben dies als Schwäche oder Versagen. Umso unsicherer werden sie dann mit der Zeit, die Angst wird scheinbar übermächtig. Zudem gibt man Angst generell mehr Bedeutung, wenn man sich nicht traut, ihr in die Augen zu sehen. Stattdessen schwächt es die Angst, wenn man es schafft, hinzuschauen, sie nicht wegzudrängen. «Wo die Angst ist, ist der Weg» ist ein hilfreicher Satz, um schrittweise aus der Vermeidung herauszukommen.

 

Höhencoach:

Wenn Sie Expositionsübungen mit Menschen mit Höhenangst durchführen: Gibt es etwas, dass anders als bei anderen Ängsten ist?

 

Michael Rufer:

Eine besondere Rolle spielt bei einigen Menschen mit Höhenangst der Schwindel. Schwindel ist einerseits ein körperliches Angstsymptom, wie beispeilsweise auch Herzklopfen oder Schwitzen. In der Höhe kann Schwindel aber auch unabhängig von Angst physiologisch entstehen, weil die Augen keinen Fixpunkt mehr haben und das Gleichgewichtsorgan nicht genügend oder widersprüchliche Inputs erhält. Man schwankt unter Umständen ein wenig und verspürt leichten Schwindel. Wenn einem dies in der Höhe Angst macht, verstärkt dies wiederum den Schwindel als Angstsymptom. Zudem kann während der Exposition Schwindel durch Hyperventilation auftreten. Das ist eine beschleunigte oder vertiefte Atmung im Rahmen von Angst. Es ist wichtig, dass die Betroffenen diese Aspekte vor der Expositionstherapie kennen und auch wissen, wie sie sich in Bezug auf den Schwindel verhalten können. Hilfreich sind kleine Verhaltensexperimente vor der Exposition, zum Beispiel das Stehen auf einem Bein bei geschlossenen Augen, oder das Provozieren von Schwindel durch gezielte Hyperventilation und das Erleben, wie dieser bei ruhigem Atmen wieder abklingt.

 

Höhencoach:

Sie haben einen beeindruckenden Werdegang, waren in verschiedenen psychiatrischen Kliniken in der Schweiz und im Ausland in leitenden Funktionen tätig und haben unzählige Patientinnen und Patienten mit Angststörungen erlebt und begleitet. Was können Sie Betroffenen aus Ihrer langjährigen Erfahrung mitgeben, damit sie sich bestärkt fühlen, sich ihren Ängsten zu stellen?

 

Michael Rufer:

Das ist wirklich schwierig zu beantworten, weil nicht nur Ängste, sondern vor allem die betroffenen Menschen immer unterschiedlich sind. Für etwas, was bei vielen meiner Patientinnen und Patienten eine motivierende Rolle gespielt hat, kommt mir Folgendes in den Sinn: Es geht nicht darum, die Angst zu verlieren. Es geht vielmehr darum, die Kontrolle schrittweise zurückzuerobern. Das Ziel ist, dass die Angst nicht mehr mich kontrolliert, sondern dass ich die Angst kontrolliere. Dies kann man schrittweise und auf verschiedenen Wegen erreichen. Wichtig ist, sich auf den Weg zu begeben und das Ganze systematisch anzugehen. Sich also informieren, was hilft, Veränderungen gut planen und sich möglichst mit anderen austauschen, die etwas davon verstehen. Das können andere Betroffenen sein oder auch Fachexperten.

 

Höhencoach:

Soweit wir informiert sind, sind Sie ja selbst regelmässig beim Klettern anzutreffen. Kennen Sie eigentlich auch ganz persönlich das Gefühl von Höhenangst und wenn ja, wie verhalten Sie sich in solchen Situationen?

 

Michael Rufer:

Ja, ich kenne das, und kann nicht wirklich vorhersagen, wenn einmal Höhenangst während des Kletterns auftritt und wann nicht. Wenn ich beim Klettern plötzlich Angst spüre, lautet meine persönliche «goldene Regel»: Innehalten, entschleunigen, nicht der Angst davonklettern. Im Gegenteil, mich für die Situation interessieren: Wo bin ich gerade? Was spüre ich körperlich? Was sehe ich, wenn ich mich umschaue? Was höre ich gerade? Also die ganze Realität wahrnehmen, auch die Angst, aber nicht nur die Angst. Manchmal schaue ich dann auch gezielt nach unten, um die Angst zu verstärken, und dann wieder anderswo hin, so dass sie wieder zurückgeht. Ich moduliere die Angst eher, als dass ich versuche, sie zu unterdrücken. Das gibt mir das Gefühl der Kontrolle und führt zu einer schnellen Angstreduktion.

 

Höhencoach:

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch und Hals und Beinbruch beim Klettern!

 

(Dieses Interview wurde im Mai 2025 geführt)


Beruflicher Werdegang von Prof. Dr. med. Michael Rufer:

Ursprünglich in Berlin Medizin studiert, war Michael Rufer über 10 Jahre lang stv. Klinikdirektor und Leiter des Ambulatoriums der Klinik Psychiatrie und Psychotherapie (heutiger Name: Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik) am Universitätsspital Zürich. Im Jahr 2017 hat er als Chefarzt die Leitung des Zentrums für Soziale Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich übernommen und war zugleich stv. Klinikdirektor. Von 2013 bis 2021 war er an der Universität Zürich ausserordentlicher Professor ad personam für Psychotherapie und Psychosomatik, seitdem ist er Titularprofessor. Seit Mitte 2021 ist Michael Rufer Chefarzt der Klinik Zugersee und Geschäftsleitungsmitglied der Triaplus AG.

 

Der Angstratgeber von Prof. Dr. med. Michael Rufer kann über folgenden Link bestellt werden: 




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Copyright: Höhencoach, Inhaber David Elsasser, 8805 Richterswil, Schweiz


Bilder: marcsiegle.ch / Michael Rufer



 

 






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